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Interview Prof. Thomas Koch: „Ich kann das Urteil nicht nachvollziehen“

Das Verwaltungsgericht Schleswig hat in dieser Woche ein Urteil zum so genannten Thermofensters bei älteren Dieselfahrzeugen gesprochen: Eine temperaturabhängige Erhöhung der motorischen Stickoxidemissionen bei tiefen Außentemperaturen sei nicht akzeptabel. Seitdem herrscht Verunsicherung. Denn während sich das Urteil auf einen konkreten VW-Motor bezieht, sind nach Angaben des Vereins Deutsche Umwelthilfe 118 weitere Verfahren anhängig. Motorenexperte Prof. Thomas Koch kritisiert das Urteil scharf. Unser Autor Jens Meiners sprach mit ihm.

Professor Koch, waren Sie in den Prozess eingebunden?

„An dem Prozess war ich nicht beteiligt. Meine Verbindung zu der seit ein paar Jahren diskutierten Thematik des so genannten Thermofensters ist vor allem das Mitwirken an einer wissenschaftlichen Analyse, welche in 2020 auf Basis intensiver Forschungsarbeiten zusammen mit Kollegen der Universitäten Darmstadt und Magdeburg ausgearbeitet wurde. Wir haben insbesondere die Grenzen der verbauten Euro-5-Technologie bei niedrigen Temperaturen, die Gründe für die technischen Grenzen und auch die resultierenden Risiken aufgezeigt, sofern man die physikalisch-technischen Grenzen nicht respektiert und Fahrzeuge ohne Thermofenster betreibt.
Zudem habe ich als akademische Ansprechperson die letzten Jahre mit vielen Richtern Kontakt gehabt, die die Klagewelle ja abarbeiten mussten. Das sind fast ausnahmslos vernünftige und mit Bedacht alle Aspekte abwägende Personen, die komplexe Sachverhalte schnell durchdringen und die Fragen des Umweltschutzes ebenso wie der Fahrzeugsicherheit berücksichtigen.“

Über was hat das Verwaltungsgericht in Schleswig konkret geurteilt?

„Konkret ging es bei der Klage vor dem VG Schleswig um die Frage, ob das Kraftfahrt-Bundesamt bei einer aus meiner Sicht begrüßenswerten Neubedatung, das heißt dem so genannten Softwareupdate von älteren Volkswagen-Dieselmodellen, prinzipiell ein Thermofenster bei kälteren Außentemperaturen zulassen durfte.“

Wozu braucht man diese Thermofenster überhaupt?

„Bei ca. 10 Grad Außentemperatur kommt das so genannte Abgasrückführsystem von alten Dieselmodellen an eine Grenze. Dies war damals der Stand der Technik. Die Abgasrückführung ist eine wichtige Emissionsreduktionstechnologie, die weit mehr als 70 Prozent der Stickoxide reduziert, übrigens bis heute. Das zuständige Abgasrückführventil muss aber bei niedrigeren Temperaturen zunehmend geschlossen werden, weil es sonst zu gefährlichen Schäden kommen kann. Die Stickoxidemissionen steigen aber dadurch. Das KBA hat dieses Verhalten aus technischer Sicht als zulassungsfähig eingestuft. Dagegen wurde nun geklagt.“

Wie ist das Urteil des Gerichts ausgefallen und wie ist es zu deuten?

„Eine schriftliche Ausarbeitung liegt noch nicht vor, weshalb eine Antwort nur mit Vorbehalt möglich ist. Aber die mir vorliegenden Informationen sind besorgniserregend, denn das Verwaltungsgericht hat zwar gesehen, dass es ohne Thermofenster zu durchaus ernsten Risiken kommen kann, bis zu einer Zerstörung des Motors und einem Brand von Motor und Fahrzeug. Aber das Gericht ist der Ansicht, dass diese Risiken nicht ausreichen, um die Korrektur der Abgasrückführung bei niedrigen Temperaturen zu rechtfertigen. Es hat damit eine schwer nachvollziehbare Entscheidung gefällt, indem es den angeblichen Umweltschutz vor das wichtige Gut der Fahrzeugsicherheit und des Verbraucherschutzes, konkret die Abwendung unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben, gestellt hat. Es reichen ja bei Gefahren für die Sicherheit des Fahrzeugbetriebs, die in einem Auto dann immer auch Gefahren für Leib und Leben sein können, schon geringe Wahrscheinlichkeiten und auch seltene Fälle aus, so dass wir eine bestimmte Funktion in der Praxis unter Umständen ausschließen müssen.“

Und das hat keinen Vorrang mehr?

„Nun ist es umgekehrt. Das Gericht ordnet mit seiner Entscheidung de facto an, dass die Behörde ein solches Risiko zu tolerieren hat. Das stellt die Dinge wirklich auf den Kopf. Normalerweise ist es die Aufgabe der Behörde und auch von uns Technikern, solche Risiken zu vermeiden.“

Können Sie die Problematik technisch beschreiben?

„Bei niedrigen Temperaturen kommt es zu Belagbildungen bis hin zu funktionsgefährdenden Verlackungen der Oberflächen von abgasführenden Bauteilen. Um das zu vermeiden, wurde vor allem beim Euro-5-Technologiestand das Abgasrückführventil bei niedrigen Temperaturen geschlossen. Die Konsequenz waren erhöhte NOx-Emissionen, aber auch deutlich reduzierte Belagsbildungsprozesse und ein Vermeiden des Verklebens oder gar Blockierens des Abgasrückführventils und wichtiger Bauteile. Genauso wichtig ist zudem die enge Kopplung des Verbrennungsmotors mit der Abgasnachbehandlung und hier insbesondere mit dem Partikelfilter. Motor und Partikelfilter sind eine enge Funktionseinheit. Der Schutz des Partikelfilters vor einer zu hohen Beladung mit gefiltertem Ruß stellt eine jahrzehntealte Herausforderung dar. In der Kälte laufen die Prozesse zum kontinuierlichen Rußabbau nur mäßig. Daraus kann dann eine Überladung des Partikelfilters mit der Gefahr eines Fahrzeugbrandes resultieren. Daher wurden in der Kälte durch das Schließen des AGR-Ventils weniger Ruß-Rohemissionen bei gleichzeitig höheren Stickoxidemissionen realisiert. Dies war das Ergebnis einer ganzheitlichen Optimierung und unterhalb von ca. 10 Grad Celsius waren für ältere Fahrzeuge erste Maßnahmen einzuleiten.“

Warum finden Sie das Urteil so besorgniserregend?

„Komplizierte technische Gesamtsysteme sind in der Summe ihrer Eigenschaften immer ein Abwägungsprodukt aus verschiedenen Kriterien wie Umweltschutz, Verbraucherschutz, Sicherheit, Wirtschaftlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Reparaturfähigkeit und weiteren Produkteigenschaften. Bis zum Urteil des VG Schleswig war aus diesen Kriterien eigentlich immer ein guter, ganzheitlicher Kompromiss zu finden, wobei Schutz von Leib und Leben immer höchsten Stellenwert hatte. Das haben alle Fahrzeuggenehmigungsbehörden in ihrer Praxis auch immer beachtet. Doch obwohl der Gesetzgeber ausdrücklich und klar fordert, dass die Sicherheit des Fahrzeugbetriebes zu gewährleisten ist, hat dieses Kriterium nun für das VG Schleswig keine relevante Bedeutung gehabt. Dabei steht technisch fest, dass die beschriebenen Risiken ohne Thermofenster nicht zu vermeiden sind. Es gab technisch damals keine Möglichkeit, risikolos auf das Thermofenster verzichten zu können. Und auch heute gibt es keine Nachrüstung, mit der das Thermofenster entbehrlich wäre. Ohne Thermofenster aber haben gerade diese älteren Fahrzeuge ein erhebliches Risiko. Dass ein Gericht faktisch diese Risiken in Kauf nimmt, obwohl das Gesetz die Fahrzeugsicherheit in der Ausnahmevorschrift erwähnt, das ist das wirklich Besorgniserregende und Unverständliche an der Entscheidung. Im Übrigen ist das Urteil umso bemerkenswerter als wir in der kalten Jahreszeit gar keine vermehrten NO2-Konzentrationen in den Städten haben. Leicht erhöhte Fahrzeugemissionen treffen auf weniger NO2-Bildungsprozesse durch geringere Sonneneinstrahlung. Es gibt kein Winter-NO2-Problem, wie auch insgesamt die NO2-Stadtluftkonzentration mit Ausnahme einer einzigen von Hunderten von Messstellen in ganz Deutschland überwiegend sehr deutlich unterhalb des Grenzwerts liegt.“

Sehen Sie weitere Risiken durch das Urteil?

„Ich frage nach der Logik und warne vor den Konsequenzen, wenn die technisch-physikalischen Grundlagen außer acht gelassen werden. Darf jetzt ein Reihenhausbesitzer klagen, weil seine neue Gasheizung bei fünf Grad Außentemperatur mehr Stickoxide erzeugt als bei zehn Grad? Die Mehremission liegt an physikalischen Gesetzmäßigkeiten und ist einfach begründbar. Darf jetzt eine Fluglinie klagen, weil deren Flugtriebwerke, zudem auf deutlich höherem Niveau, bei 30 Grad Außentemperatur mehr Stickoxide emittieren als bei 15? Müssen bald E-Fahrzeuge zurückgenommen werden, weil die Reichweite bei null Grad geringer ist als bei zehn Grad? Sind Fahrzeugassistenzsystem neu zu programmieren, weil sie die Bremse benutzen? Es entstehen hierdurch Partikelemissionen und dies wäre durch ein dichteres Auffahren mit weniger Partikeln ja vermeidbar.“

Die Deutsche Umwelthilfe als Kläger betont, dass Thermofenster, also eine Temperaturabhängigkeit der Emissionsregelung, generell nicht tragbar seien, richtig?

„Die DUH fordert seit Jahren die Katalysatornachrüstung alter Fahrzeuge, obgleich viele fachkundige Institutionen davor warnen. Der politisch erzeugte Druck mündete in dem Flop der Verpflichtung zum Angebot einer Nachrüstung, was zu mehreren insolventen Firmen, Kunden ohne Kulanzansprüchen und fahrzeugabhängig trotzdem unbefriedigender Funktionalität in der Kälte führte. Insbesondere hat die DUH selber aufgezeigt, dass die Lösung der Nachrüstung bei tiefen Temperaturen große Schwächen aufzeigt und nicht mehr umfassend funktioniert, da es ausgedehnte Thermofenster auch bei dieser Lösung gibt! Warum trotzdem gegen Thermofenster geklagt wird, ist ein Widerspruch in sich.“

Wäre es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers gewesen, das Thema Thermofenster von Anfang an zu klären?

„Der Gesetzgeber hat seit über 15 Jahren explizit bei niedrigen Temperaturen höhere Emissionen gestattet. So hat er beispielsweise bei Ottomotoren in der Euro-5-Euro-6-Regulation 215/2007 ganz gezielt bei minus sieben Grad über zehnfach höhere Emissionen gestattet. Und bei Dieselmotoren hat der Gesetzgeber diesen Test gar nicht vorgeschrieben und damals bewusst keine Emissionsanforderungen und -grenzwerte in der Kälte vorgegeben. Ihm war klar, dass die NOx-Emissionen bei Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen höher sind. Er kannte auch die Notwendigkeit eines Thermofensters und hat entschieden, dass bei einem Konflikt zwischen Fahrzeugsicherheit beziehungsweise Schutz des Motors und Emissionen ersteres Vorrang hat. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass es damals eine ganz bewusste Entscheidung des Gesetzgebers für den Diesel gab. Auch deshalb, weil der CO2-Ausstoß und damit der Kraftstoffverbrauch bei Dieselfahrzeugen um ca. 20 Prozent niedriger ist als bei Benziner-Fahrzeugen. Die exzellente aktuelle Norm Euro-6d-final gestattet übrigens auf einem vernachlässigbaren Niveau und ebenfalls bei minus sieben Grad erhöhte Emissionen. Thermofenster waren und sind also bis heute vorhanden, weshalb ich das Urteil erst recht nicht nachvollziehen kann.“

Gibt es eigentlich eine geschäftliche Verbindung Ihrerseits zum Volkswagen-Konzern?

„Unser Institut und ich führen seit vielen Jahren keinerlei Aufträge, Forschungsarbeiten, Dienstleistungen oder Ähnliches für Volkswagen oder VW-Konzerntöchter durch. Mich treibt das Bestreben, bestmögliche umweltfreundliche und zugleich sichere Produkte im Umfeld einer guten Gesetzgebung zum Wohle der Kunden zu entwickeln. Dabei darf man nicht die Produktsicherheit und den Schutz des Verbrauchers aus dem Auge verlieren. Gesetzgeber, Automobilindustrie und nun die Judikative haben hier leider immer wieder Anlass zur Kritik geboten.“ (cen/Jens Meiners)

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Thomas Koch.

Thomas Koch.

Foto: Autoren-Union Mobilität/KIT (Archivbild)

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