Logo Auto-Medienportal.Net

Unter uns: Vom Warten auf die Impfung und die Verkehrswende

Weniger die Wartezeiten sind es, die mich bei meinem Termin im Impfzentrum in der kleinen norddeutschen Kreisstadt auf neue Gedanken bringen. Die zweite Gruppe der Impfprioritäten ist daran. Um mich herum viele alte Leute, und zu meiner großen Überraschung falle ich gar nicht auf. Offensichtlich gehöre ich auch zu denen um mich herum – ich bin auch nicht jünger, wie alle hier gezeichnet vom Alter, gebremst im Schwung, langsam in den Bewegungen. Wir kommen aus dem gesamten Kreisgebiet. Der sonst fast leere Festplatz ist jetzt vollgeparkt mit Autos, denen man ihren Zweck ansieht: nix posen, nur ankommen.

Begleitpersonen, die führen und stützen, Gehhilfen, mühsames Aufstehen nach der freundlichen Aufforderung, nun doch die nächste Station aufzusuchen. Junge Hüpfer sind auch da: die netten Helfer. Ihre freundlich-frischen Anweisungen verstärken den Kontrast zu uns Impfwilligen. Auch ich mit meinen Prothesen im Körper und meiner Kurzatmigkeit brauche ihre geduldige Nachsicht. Als ich einen Parkplatz gleich am Ende der Warteschlange vor der Halle fand, war ich froh über die vielen Schritte, die ich meinem versteiften Rückgrat und meinem Herzen so erspart hatte.

Als ich nach einer Stunde wieder an meinem Auto stand, wurde mir bewusst, was ich schon lange wusste. Diese Impfaktion war ein Ausflug in eine unserer zukünftigen Lebenswirklichkeiten. Heute sind 22 Prozent aller Deutschen Senioren. Also älter als 65 Jahre. In wenigen Jahren wird jeder Vierte ein Rentner sein. In Deutschland gibt es 293 weitere Landkreise wie unseren, im so genannten ländlichen Raum. Nur drei von zehn Deutschen wohnen in Großstädten, im viel gepriesenen urbanen Umfeld.

Wir wohnen in der Kreisstadt, hätten früher die paar hundert Meter zum Impfzentrum zu Fuß bewältigt. Jetzt bestehe ich auf kurzen Wegen. Und ich war nicht der Einzige. Wie gesagt: Der Parkplatz war voll, trotz der zentralen Lage im Zentrum mit einer Bushaltestelle vor der Tür. Die Fahrräder vor der Halle sahen nicht so aus, als hätten sie Rentner transportiert. Um aus den Dörfern in die Stadt zu kommen, bleibt den Impfwilligen nur das Auto, wenn nicht zufällig der Fahrplan des selten fahrenden Busses und der Impftermin zusammenpassen.

Aber es wird ja alles anders. Der öffentliche Personennahverkehr wird uns hier überrollen mit vielen, schnellen Angeboten, die auf die persönlichen Bedürfnisse der Menschen eingehen und die Erwartungen der vielen Dörfer und Siedlungen des Kreises erfüllen. Jeder wird zu jeder Zeit dahin gelangen können, wo er hinwill und das sicher und sauber von Tür zu Tür. Der Fußgänger- und der Radfahrerverkehr in der Stadt werden getrennt sein. Im Zentrum müssen Radfahrer und die Fahrer von Elektrorollern absteigen. Fußgänger und Rollatoren haben Vorrang. Die im Zentrum getätigten Einkäufe schafft der Händler mit seinem oder dem städtischen Lieferdienst bis vor die Wohnungstür. Bevor die vielen Patienten in die Stadt zu den Praxen eilen, kommen die Ärzte lieber ins Haus, ebenso die Friseure, die Fußpflege, der Optiker usw. Denn die Verkehrsmenge muss runter. Lieber ein Arzt bewegt sich als zwei Dutzend Patienten.

Wir müssen nur ein wenig warten. Die Verkehrswende steht schließlich schon vor der Tür und wird besonders die Senioren in ein Goldenes Zeitalter führen. Denn das Hauptziel einer Verkehrswende ist es, den Verkehr zu verhindern. Deswegen bleiben wir aus dem ländlichen Raum zunächst erst einmal am besten daheim. Kann doch kein Problem sein. Corona hat uns doch das quarantänen und homeofficen gelehrt.

In der Stadt sieht die Herausforderung für die Verkehrswende ganz anders aus: Busse, U-, S- und sonstige Bahnen, Fahrräder, Bikes als Eigentum oder geliehen, jugendlicher Elan und das Bewusstsein, zur urbanen Welt von morgen zu gehören. Oben drauf kommen noch Carsharing, Ride hailing, modaler Verkehr und all die anderen Vorschläge aus den Studienseminaren der Verkehrsplaner.

Wenn unsere Politiker heute über den Verkehr von morgen reden, vergessen sie manchmal, dass sie auch eines Tages älter als 35 Jahre werden. Die Forderungen der Politiker klingen für die älteren Menschen und die auf dem Land manchmal so abgehoben, als hätten die Politiker den Blick für die anderen Lebensverhältnisse jenseits des Randes der Großstädte verloren. Oder sie versuchen, sich für ihren Verkehr einen anderen Menschen zu bauen. Der hat dann kein Interesse an einem eigenen Fahrzeug mehr, macht sich auch in Pandemiezeiten nichts daraus, mit Fremden das Fahrzeug und deren Dreck zu teilen, kann sich bis ins hohe Alter auf zwei Rädern bewegen und ist zufrieden mit dem, was sich in seinem überschaubaren Stadtviertel abspielt. Freizeit nicht in Italien, sondern beim Italiener.

Vielleicht wird den Städtern eines Tages die Miete in der City zu hoch. Und wenn sie erst einmal verheiratet sind, lockt sowieso der ländliche Raum. Zum E-Bike kommt dann schließlich doch das Familienauto. Irgendwann wird ihnen dann vielleicht bewusst, dass nicht das E-Bike, sondern der Rollator das Fahrzeug ist, das zur demographischen Situation unseres Landes passt.

Die Verkehrswende in einer Kleinstadt, durchgeführt mit dem Ziel Lebensqualität für alle – das wäre eine große Aufgabe, die nicht mit den Radwegen beginnt, sondern mit einer Strategie für die Gesamtstadt. Dazu gehören ein lebendiger und leistungsfähiger Einzelhandel in der City ebenso wie gut zugängliche, am Service orientierte Ämter wie Stadtverwaltung und Jobcenter, wiederkehrende Events wie Wochenmärkte, zum Beispiel auch Aktionsflächen und Bühnen für Jedermann, Möblierung der Stadt für Fußgänger und Bummler.

Zum Schluss erst kommt der Verkehr dazu. Fußwege, Radfahrstraßen, Radwege, Personen-Bedarfsverkehr (Rufbus heute, morgen autonome Kabinen), Lieferservices für Kunden, Belieferung des Handels außerhalb der Hauptzeiten des Einzelhandels und ein Platz fürs Auto so dicht wie möglich am Ziel. Stichwort: shared spaces. Wenn die Gesamtstrategie stimmt, stören auch die Autos nicht. So wird die Kleinstadt lebenswert, attraktiver als jede Großstadt auch für Menschen, wenn sie erst einmal den Partyalter entwachsen sind.

Diese Kreisstadt war vor 15 Jahren auf dem Weg zu einer Strategie. Sie war sich zu selbstsicher. Das mutigste seitdem war die freche farbige Gestaltung der Festhalle, vor deren Tür heute wieder die Schlage der Impfwilligen wartet. (ampnet/rm)

Mehr zum Thema:

Teile diesen Artikel: