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Special zu „eCall“ und Datensicherheit: Gläsernes Auto, gläserne Fahrer

Der Notruf ließ Schlimmstes befürchten. Im Kölner Stadtteil Poll, so hieß es, sei in unmittelbarer Nähe zur Zentralverwaltung des TÜV Rheinland ein sehr schwerer Verkehrsunfall mit einem BMW der 7er-Reihe passiert. Man müsse davon ausgehen, dass auch Menschen Schäden erlitten hätten. Umgehend machten sich Polizei, Notarzt, Sanitäter sowie Berufsfeuerwehr mit Blaulicht und Martinhorn auf den Weg zur Straße Am Grauen Stein".

Am Bestimmungsort indes gab es weder Unfall und Blechknäuel noch Verletze oder gar Tote, sondern lediglich verdutzte Gesichter. Es stellte sich heraus, dass die Ingenieure des TÜV Rheinland einen Crashtest mit einem großen BMW durchgeführt, aber zuvor vergessen hatten, die Sensoren des im Fahrzeug eingebauten Alarmsystems abzuschalten. Dieses eCall (emergency call oder elektronischer Notruf) genannte System registrierte Messwerte von Verzögerung, Gurtstraffern und Airbags, schickte die Daten nach München in eine gemeinsame Service-Zentrale von BMW und ADAC, wo mit Satelliten-Unterstützung der genaue Ort des Crashs lokalisiert wurde. Ein Hilferuf nach Köln war jetzt nur mehr eine Frage von Sekunden. Dass dann die Einsatzkräfte vor Ort nur angekratzte Crashtest-Dummies vorfanden, konnte in Bayern niemand ahnen.

Das Ganze geschah am 4. Dezember 2007. Damals war die Idee, Autos mit einem automatischen Notrufgerät auszustatten, das so ähnlich funktioniert wie ein Mobiltelefon, längst ein alter Hut. Schon 1982 hatte beispielsweise die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in Bergisch Gladbach bei Köln solche Apparate mit dem Ziel getestet, nach und nach die Notrufsäulen an den Autobahnen und einigen Bundesstraßen zu ersetzen. Die Kosten der dafür erforderlichen Hardware, also die technischen Einrichtungen im Auto sowie die bundesweit verteilten Sendemasten und Rettungsleitstellen, kalkulierte man mit 500 Mark pro Pkw und eine Milliarde Mark für Empfangsantennen und Notrufzentralen. Viel zu teuer zu einer Zeit, da das Mobilfunknetz noch lückenhaft und tragbare Telefone in punkto Gewicht, Anschaffungspreis und Gesprächsgebühren in astronomischen Höhen schwebten.

Das ist inzwischen anders. Die Infrastruktur für drahtlose und digitale Verbindungen nähert sich der Perfektion, und deren Nutzung kostet auch nicht mehr die Welt. War in den 1990er Jahren nur für teure Oberklasse-Fahrzeuge weniger Marken wie etwa BMW oder Mercedes eine solche Ausrüstung als Zubehör über die Aufpreisliste bestellbar, so spielt Geld im Zusammenhang mit einer europaweiten Einführung des automatischen Notrufsystems inzwischen nur noch eine untergeordnete Rolle - wenn man einmal von den schätzungsweise 100 Euro absieht, um die ein Auto teurer werden könnte. 2.500 Menschen - manche Experten vermuten sogar 10.000 -, die bei Verkehrsunfällen in der EU sowie den teilnehmenden Staaten Island, Norwegen und der Schweiz pro Jahr nur deshalb sterben, weil Rettungskräfte zu spät am Unfallort eintreffen, könnten dank eCall überleben.

Gründe genug für die EU- Kommission in Brüssel, an sämtliche Mitgliedsstaaten im September 2007 zu appellieren, alle neuen Modelle von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen ab 2015 mit dem lebensrettenden eCall-System auszustatten. Bei einem schweren Unfall wählt es automatisch die Notrufnummer 112 und übermittelt Daten zum Standort des Fahrzeugs an die Notrufzentrale. Nach der Empfehlung der Kommission sollten die Regierungen dafür sorgen, dass Betreiber von Mobilfunknetzen ihre Infrastruktur so nachrüsten, dass Notrufe sofort erkennbar in den Zentralen ankommen. Ein eCall solle aber auch manuell ausgelöst werden können, indem ein Knopf im Auto betätigt wird. Die Niederländerin Neelie Kroes, EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, jubelte: "eCall wird Hunderte von Leben retten und den Schmerz und das Leiden von Opfern von Verkehrsunfällen verkürzen.“

Nachdem die freiwillige Einführung des Systems scheiterte, forderte das europäische Parlament in Straßburg die Europäische Kommission dazu auf, eCall in allen EU-Mitgliedstaaten bis 2015 verbindlich einzuführen. Dem schloss sich die EU-Kommission im September 2011 an.

Dies stellt sich auf den ersten Blick uneingeschränkt als ein Gebot der Vernunft dar, weist allerdings bei genauerem Hinsehen einige Haken auf. Zwar betont die EU-Kommission ausdrücklich, dass "aus datenschutzrechtlichen Gründen das eCall-System erst dann eine Ortung des Fahrzeugs ermöglichen darf, bis es durch einen Aufprall aktiviert wird". Doch Thilo Weichert, Chef des unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein mutmaßt: "Bei der Entwicklung der Initiative eCall kann der Eindruck entstehen, dass das Projekt dazu genutzt werden soll, den Informationstechnik-Einsatz in Kraftfahrzeugen massiv voranzubringen."

Während seiner Meinung nach gegen eine manuelle Aktivierung des eCall-Systems aus Datenschutzsicht wenig einzuwenden sei - dies käme der Absetzung eines Notrufes mit einem Mobiltelefon nahe - habe der Autofahrer bei einer automatischen Aktivierung bei einem Notfall die Souveränität über seine Daten nur noch begrenzt.

Darüber hinaus befürchtet Weichert, dass eCall zur Basis einer Vielzahl weiterer Anwendungen missraten könne. Als mögliche Interessenten zählt er eine ganze Palette unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche auf: Telekommunikation, Speditions- und Flottenmanagement, Verkehrsplanung, Versicherungen, Kfz-Hersteller, -Händler und -Werkstätten, Pannendienste, Automobilclubs, Werbewirtschaft, Tourismus und Internetwirtschaft. "Interessant", so Weichert, "können die Daten auch für Behörden sein, nicht zuletzt für Finanzbehörden und die Polizei."

In der Tat preschte Insurance Europe, der europaweite Verband der Versicherer, als erster vor und meldete offen Interesse an, dass auch Versicherungsunternehmen Zugriff auf eCall-Daten ihrer Kunden erhalten sollten. Auf diese Weise könnten anhand von Telemetriedaten individuell maßgeschneiderte Tarife je nach Fahrverhalten, Kilometerleistung oder Risikobereitschaft berechnet werden.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft setzte noch einen drauf und verlangte in einem Beschwerdebrief an die EU-Kommission, dass die Daten keineswegs ausschließlich und automatisch an die Notrufzentralen der Automobilhersteller geschickt werden dürften. Denn nur, wer als erster an der Unfallstelle erscheine, mache das Rennen im lukrativen Service- und Reparaturgeschäft. Viele Versicherer bauten nämlich in den vergangenen Jahren ein Netzwerk von Partnerwerkstätten auf. Für Kunden, die sich verpflichten, bei Schäden diese Betriebe aufzusuchen, bedeutet das verbilligte Kaskotarife. Hätten die Autoproduzenten jedoch das Exklusivwissen über das Unfallgeschehen, wären diese automatisch auf der Pole Position und könnten so ihre Vertragspartner und nicht die der Versicherer bevorzugen.

Das mögliche Angebot weiterer, je nach Betrachter nützlicher, lästiger oder gar verwerflicher Leistungen, die durch eCall möglich werden, ist schier unerschöpflich. Die Zeitung "autobild" befürchtet: "Rund um Auto und Fahrer könnte eine Datensammelei beginnen, deren Auswirkungen bislang nur zu erahnen sind. Ein Milliardengeschäft, Facebook hat es vorgemacht." Auch der Kölner Verkehrsrechtler Thomas Funke sagt; "Daten sind das Gold des Internetzeitalters." Nach einer Studie soll der europäische Telematik-Markt gegen Ende des jetzigen Jahrzehnts über fünf Milliarden Euro wert sein.
Der Autofahrer als gläserner Bürger in der Hand der Telematik? Durchaus möglich. Schon jetzt wäre eine Ferndiagnose des Fahrzeugs per Telemetrie kein Problem - in der Formel 1 funktioniert sie bereits seit Jahren bestens. Oder Straßenbenutzungsgebühren auch für Pkw. Sie wären mit einem Bewegungsprofil bis auf den Cent genau auszurechnen. Und wo sich das Auto im Moment befindet, ist auch bekannt. Das dient der Polizei bei der Suche nach dem geklauten Wagen oder der betrogenen Ehefrau als möglicher Beweis, dass ihr Gatte fremdgeht.

Ängstliche Naturen befürchten sogar das Risiko terroristischer Eingriffe. Böse Buben könnten per Telematik die Bremsen eines Autos lahmlegen, in dem gerade jemand fährt, dem sie Schlimmes antun wollen.
Recht umfangreiche Erfahrungen mit einem eigenen eCall-System hat schon jetzt der ÖAMTC, das österreichische Pendant des ADAC gemacht. 50 000 Autos sind in der Alpenrepublik mit einem Notrufgerät ausgestattet. Es meldet im Fall des Falles Zeit und Ort des Crashs sowie Fahrgeschwindigkeit und Aufprallwucht. Daraufhin versucht die Notrufzentrale mit dem Wagen eine Sprachverbindung herzustellen. Meldet sich niemand, wird umgehend die Rettung in Gang gesetzt.

Neben den rund 10 000 echten Notrufen im Jahr gehen laut ÖAMTC auch eine Menge Fehlalarme wie am 4. Dezember 2004 in Köln ein. Dann haben meist zu empfindlich eingestellte Sensoren falsch reagiert weil der Fahrer beispielsweise ein großes Schlagloch übersehen oder einen Bordstein allzu forsch überfahren hat. (ampnet/hrr)

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Lkw-Unfall.

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Foto: Auto-Medienportal.Net/Volvo

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